Ich verlasse das Büro wirklich kurz vor knapp, aber wenigstens bin ich schon umgezogen. Mittlerweile gehört das Outfit Strumpfhose, Ballettanzug, Stulpen und Bolerojacke Mittwochs so dazu, wie der Helm beim Rad fahren. Die Lehrerin muß ja immerhin genau sehen können, ob die Schultern gerade sind, oder ob ich den Bauch oder Po anspanne. Alles andere nützt ja nichts, dann könnte ich das Athletiktraining auch sein lassen. Oder mich weiterhin daheim auf der Matte wälzen.

Kampfbereit

Das möchte ich ja aber nicht. Ich flitze also mit einer Jogginghose und einer Sweatjacke drüber, zum Auto und begebe mich auf den Weg zum Balletttraining. Sogar ganze 10 Minuten vor der Zeit parke ich ein und erklimme die vielen Stufen zum Studio. Die Herren, die mir im Treppenhaus begegnen, sind sichtlich überrascht, dass ich nicht in die Schule für asiatische Kampfkunst abbiege, sondern es mich weiter hoch zur Ballettschule treibt. Offensichtlich sehe ich kampfbereit aus? Ich muß auch immer noch über ein Arbeitsproblem nachdenken, für das es eine mathematische Lösung zu finden gilt. Ich habe schon den Zeugwart und meinen mathematisch nicht unbegabten Vater auf die Problematik angesetzt, trotzdem findet mein Kopf diesbezüglich keine Ruhe.

Anspannen

Da ich schon umgezogen bin, lege ich nur flott die Jogginghose und die nicht tanztauglichen Schichten der Oberbekleidung ab, schlüpfe in die Schnäppchen und bin schon fertig. Heute sind wir wieder nur wenige Tänzerinnen im Unterricht, so dass es wieder zu einer sehr genauen Beobachtung kommen wird.

Und schon legen wir los. Das übliche Aufwärmen am Boden, dann die Abfolgen an der Stange und immer wieder Po anspannen, Bauch einziehen, Rücken gerade machen und die Schultern runter. Meine Schultern haben auf Ballett ja wirklich sehr wenig Lust. Wenigstens sind sie die einzigen Körperteile, die diesbezüglich mosern… der Rest des antrainierten Athletinnenkörpers findet tanzen schön und kann sich entsprechend anspannen und dehnen, wie es gewünscht wird.

Konzentration

Erfreulicherweise kann ich dank der letzten Unterrichtsstunden viele Übungen mittlerweile ganz gut und vertanze mich nicht mehr. Obwohl mir die Abfolgen heute schwerer fallen als sonst. Immerhin muß ich das mathematische Problem ja auch noch in meinem Kopf bearbeiten. Nassgeschwitzt stellen wir die Stangen dann an den Rand und begeben uns in die Mitte. Hier geht es vor allem um Balance. Und natürlich um Konzentration. Ohne Konzentration bin ich hier allerdings auch an der Stange verloren. Die Drehungen durch die Diagonale des Raumes klappen heute wieder besser als noch letzte Woche und so knicksen wir dann nach der Trainingsstunde einmal durchgeschwitzt vor dem Spiegel und vor uns selbst.

So anstrengend hatte ich den Ballettunterricht meiner Kindheit und Jugend nie in Erinnerung.