Urplötzlich ist es wieder richtig warm. Dabei sieht es gar nicht danach aus. Vielmehr wirkt es draußen ähnlich bewölkt und wenig sonnig, wie die letzten Tage, wo es nicht kalt, aber eben auch nicht so extrem heiß war. Heute glänzt die Außentemperatur mit knappen 30°C und als ich nach Feierabend zum Parkhaus laufe, trage ich trotzdem meine Jeansjacke… weil ich es einfach nicht verstanden habe. Oder weil ich es nicht glauben kann.

Heute treffe ich mich nach der Arbeit mit Eva. Nachdem ich mittlerweile schon einige Fortschritte beim Rad fahren gemacht habe, möchte ich mir nun noch mal etwas zusätzlichen Rückenwind holen. Angst ist keine einfache Begleitung und wenn man merkt, dass etwas mit Hilfe einfacher geht, warum sich unnötig quälen. Ganz bewusst entscheide ich mich übrigens für den Begriff Begleitung und nicht Gegner, der einem üblicherweise im Zusammenhang mit der Angst leichter über die Lippen geht. Meine Angst begleitet mich, weil sie ein Schutzgefühl ist. Mein Kopf weiß, was passieren kann.

Er hat den Schmerz, den Schreck und die Fehlbehandlung im Krankenhaus in Groß-Gerau nicht vergessen. Er hat nicht vergessen, wie die Ärztin in der BGU in den Raum der Notaufnahme gestürmt ist und ich auf einmal ein akuter Notfall im Schockraum war. Er holt die Angst dazu, damit er mich vor der Wiederholung einer solchen Erfahrung bewahrt. Aus diesem Grund ist die Angst nicht mein Gegner. Sie meint es gut mit mir. Aber zu viel des Guten kann einen eben auch belasten. Eva und ich sitzen deshalb heute zusammen in einem Café und ich erzähle ihr davon.

Ich erzähle ihr von meiner Fahrt zur Werkstatt und allen Gefühlen, die ich dabei hatte. Ich erzähle von der tollen Radausfahrt mit dem Zeugwart vom Sonntag und davon, dass es weiterhin nur sehr schwer klappt, von daheim loszufahren, wenn ich alleine bin. Wir erarbeiten einen Plan. Im Grunde führt mich Eva auf ihre ruhige, besonnene, angenehme Art durch meine Gefühlswelt. Sie hilft mir zu verstehen, sie stellt die Fragen, die mir helfen das zu formulieren, was mir weiterhelfen kann. Die Zeit vergeht wie im Flug und wir entwickeln eine Strategie, die ich nun weiter umsetzen kann.

Bei der Verabschiedung wissen wir, dass wir uns eh gleich wiedersehen, denn Eva hilft heute am Langener Waldsee erneut Athleten, deren Angst sie im Freiwasser einschränkt. Athleten, die die Weite des Sees bedrohlich und nicht angenehm empfinden. Der Zeugwart und ich fahren heute auch wieder zum See.

Da ist heute Neoschwimmen angesagt, einfach deshalb, weil der See „nur“ 22°C hat. Zwar sind der Zeugwart und Walter Mitty seit neustem im Besitz eines Speedsuits, aber heute bietet sich die Verwendung eben nicht an. Der Zeugwart leiht sich einen Neo, das ist nämlich im Preis der Swimnight einmal mit drin und entscheidet sich -selbstverständlich- für das absolute Topmodell. Ich ziehe mich um und steige in meinen Neo, der noch bis vor Kurzem das absolute Flaggschiff der Marke war. Beim Anziehen stehe ich auf einem Glitzerkonfetti, das dem heutigen Freiwassertraining ganz sicher noch den verdienten Glamour verleiht.

Mit einem Leihanzug, der mit fast 900EUR im Laden hängt, marschieren wir dann zu fünft bis an die Hüfte angezogen, an den See. Ich weiß noch gut, wie mühsam sich das Schwimmen mit nicht richtig zurechtgezuppeltem Anzug angefühlt hat, also gehe ich zum wässern in den See und flute meinen Anzug mal so richtig. Mein Körper ist nicht an die Wärme gewöhnt, aber an die Kühle des Wassers auch nicht. Da kann man es mir auch nicht so richtig recht machen. Komplett geflutet rücke ich das Flaggschiff zurecht und dann ist es auch schon fast so weit und wir können los.

Ich möchte heute die große Runde schwimmen. Am liebsten würde ich eine große Runde und eine kleine Runde hintendran schwimmen. Ich glaube auch, dass ich das gut könnte heute. Immerhin sitzt der Anzug, zumindest gefühlt, perfekt. Karla Kolumna wirkt unsicher. So richtig geheuer ist der See ihr nicht. Die Weite wirkt beängstigend. Ich glaube, Eva würde Karla Kolumna auch gut tun.

Ich sage, dass ich mich über Begleitung auf der großen Runde freuen würde, weil das anders klingt, aber das Gleiche meint, wie „wenn Du Dich unsicher fühlst, schwimme ich mit Dir“. Aber manchmal ist es einfach die Ausdrucksweise. Und ehe wir uns versehen, schwimmen alle los und Karla Kolumna und ich stehen mit dem Vorsatz am Ufer, dass wir heute die große Runde gemeinsam schwimmen. Ich weiß, dass ich heute nicht für mich schwimme. Alleine eh nicht, aber diese große Runde geht auch nicht um mich. Die große Runde schwimme ich mit Karla Kolumna, weil sie sich mit meiner Anwesenheit sicher fühlt. Das ist höchstwahrscheinlich ähnlich, wie ich mich in der Anwesenheit vom Zeugwart, Lovis, dem Räuberhauptmann, der Chefin, Madita, Lisabeth oder dem Schwimmduo auf dem Rad sicher fühle. Ich fahre dann trotzdem alleine auf meinem Rad, aber das Gefühl ist anders.

Und das Gefühl ist das, was zählt. Und im Grunde geht’s bei mir ja auch um nichts, das heißt auch, dass es ziemlich egal ist, ob ich eine große, zwei kleine oder sonst was schwimme. Ich schwimme, weil es mir Spaß macht. Ganz einfach. Also konzentriere ich mich heute darauf, dass ich nie zu weit von Karla Kolumna wegschwimme. Auf dem ersten Stück, bis zur ersten Boje, gibts ordentlich Wellen von rechts, so dass es für mich ganz passend ist, dass ich sie links von mir habe. Karla Kolumna allerdings atmete kontinuierlich in meine Richtung, also gegen die Wellen. Das ist natürlich weniger gut. Entweder das ist ihre Schokoladenseite oder sie ist so unsicher, dass sie mich im Blick halten muß? Schöner wäre es, wenn das ihre Schokoladenseite wäre. Vielleicht klappt nach links atmen auch noch gar nicht so richtig? Muß ich dann mal fragen, wenn wir am Ufer sind.

An der ersten Boje halte ich an und frage, ob wir uns sicher sind, dass wir die große Runde schwimmen möchten. Mir ist das egal, weil ich beides kann. Groß oder klein. Für mich ist das Schwimmen im See entspannend. Einfach immer bis zur nächsten Boje. Keine störende Leinen, keine Wenden, keine dreckigen Bodenfliesen und kein Chlorgeruch. Wir schwimmen die Große. Karla Kolumna ist sich ganz sicher und so schwimmen wir einträchtig nebeneinander her. Ich übe Orientierungsschwimmen und die Atmung zu beiden Seiten. Ich drücke sie zurück in die Spur, wenn sie uns zu sehr nach recht schwimmen möchte und ansonsten schaue ich mir die Gegen an. Das Wolkenspiel am Himmel ist heute mal wieder top.

Auch die einzelnen Schwimmstile um uns rum sind sehenswert und kurzweilig und so schwimmen wir zurück zum Ufer und können uns abklatschen. Weil Karla Kolumna einfach top durchgezogen hat! Und dabei weder Panik noch Angst bekommen hat. Sie ist einfach großartig geschwommen und kann so richtig stolz und zufrieden sein. Mein Flaggschiff und ich hatten ebenfalls ein gutes Training. Ich habe die Orientierung über jeden Arm noch mal richtig aufgefrischt und die verschiedensten Arten des Armzuges ausprobiert. Wenn man so überhaupt gar nicht gehetzt ist und einfach mal machen kann, schwimmt sich so ein Potpourri auch gleich viel effektiver.

Das erfolgreiche Freiwassertraining lassen wir heute Abend bei einer Pizza sacken.  Unnötig zu erwähnen, dass sie überragend lecker schmeckt.