Der Zeugwart und ich haben weiterhin Urlaub. Daran könnte ich mich wirklich gewöhnen. Wir genießen die Tage und haben wirklich tolle Pläne. Urlaub zu Hause ist natürlich ziemlich anders, als wegfahren und die Welt entdecken. Wir entdecken vor unserer Haustür, und zwar so ausgiebig, dass ich deutlich überrascht bin. Für heute hat der Zeugwart eine Testfahrt von Open Bike organisiert. Im Rhein-Main Gebiet ist das im Bike Loft in Wiesbaden möglich, sogar in meiner Fahrradgröße! Eine tolle Möglichkeit, denn der Zeugwart ist stark daran interessiert, ein Gravelbike anzuschaffen.
Von Anfang an
Und nach einer Probefahrt, da sind wir uns total einig, kann man überhaupt erst mal richtig beurteilen, ob ein Gravelbike überhaupt sein muß, wo wir ja bereits im Besitz von Crossern sind. Der Unterschied auf dem Papier ist mir klar, ein Crosser, ist eher ein Rennrad, ein Gravelbike geht eher in Richtung Mountainbike. Zumindest so ungefähr. Fragt man die Spezialisten, werden die garantiert noch zahlreiche weitere Unterschiede wissen und vor allem meine Vergleiche als unvollständig darstellen. Aber ich bin ja schließlich kein Spezialist.
Was ich allerdings weiß ist, dass ich auf meinem Crosser eine lang gestreckte Position habe, die mich eben deutlich mehr der Rennradposition erinnert als an irgendwas sonst. Und das weiß ich, obwohl meine letzten Mountainbike Erfahrung Jahrzehnte her ist! Die Möglichkeit zur Probefahrt gibt’s also im Bike Loft und so fahren wir mit dem Auto nach Wiesbaden und parken wir in der nahen Tiefgarage unter dem Kurhaus. Von hier sind es nur knappe 5 Minuten zum Laden in der Nerostrasse, die direkt auf den Kochbrunnen zuführt.
Beim Experten
Das Bike Loft ist kein riesiger Laden mit unzähligen Rädern in der Ausstellung. Hier ist es mehr klein und fein, würde ich sagen. Schick ausgestattet mit viel Holz und ich verstehe sofort, dass es hier um die Liebe zum Detail geht. Hier wird mit Herz und Seele gegravelt. Falls das überhaupt ein Wort ist. Wir bekommen unsere Leihräder angepasst und natürlich noch einige Erklärungen zum jeweiligen Open Bike. Mein Modell nennt sich Wide. Der Zeugwart hat sogar die Wahl zwischen zwei verschiedenen Modellen: Up und Wide. Er beginnt, wie ich, mit dem Wide. Und nachdem ich sicherlich die dämlichste Gravelstarterin überhaupt bin, habe ich auch irgendwann verstanden, wie man das Rad schaltet und wir können los.
Wer noch nicht in Wiesbaden war, kann es nicht wissen, aber ich bin in Mainz aufgewachsen und war unzählbare Male in Wiesbaden. Ich weiß deshalb ganz genau, dass es hier überall hoch geht. Überall. Ausnahmen gibt es nur, wenn man zum Rhein fährt. Da fahren wir aber natürlich nicht hin. Erfreulicherweise kann ich mit der Gangschaltung gleich drei Gänge auf einmal leichter schalten. Ob mir das allerdings tatsächlich so viel bringt? Mir fallen ganz spontan einige Straßen ein, die hier in der Nähe sind, die ich mit meinem Crosser nicht gut hochfahren könnte. Auch nicht im leichtesten Gang. Allerdings weiß ich auch, wie man flott ein- und wieder ausklickt und kann zur Not schieben. So einfach kann ein Berg sein.
Immer hoch
Der Zeugwart bekommt noch leihweise ein Navigationsgerät mit einer schönen Runde drauf und schon sind wir unterwegs. Angedacht sind 13km über alle Untergründe, die Wiesbaden und seine Umgebung so zu bieten haben. Ein Gravelbike Fahrer mag Untergründe, gleich welcher Art. Ich bin mir nicht sicher, ob das was für mich ist. Allerdings wäre es auch bescheuert schon im Asphaltteil der Runde einen Rückzieher zu machen. Also auf geht’s hinter dem Zeugwart und dem Navi her. Schnell voran komme ich nicht, aber ich komme voran. Das grenzt an ein Wunder. Ich fahre tatsächlich zur Russisch- Orthodoxen Kirche auf den Neroberg rauf. Respekt. Das hätte ich vorher nicht gedacht.
Ebenso wenig hätte ich gedacht, dass ich auf keinem Stück dieser Tour schieben muß. Ist aber so. Ich schiebe nicht. Die Rampen mit grobem Schotter machen mir ein wirklich mulmiges Gefühl, ich weiß genau, dass der Crosser hier wegrutschen und ich mich unwohl fühlen würde. Hier gibt’s wirklich viele verschiedene Untergründe. Aufgewühlten Waldboden, von Landmaschinen, übliche Waldautobahnen, asphaltierte Wege und schottrige Stücke. Die Strecke ist für einen Fahrradtest wirklich perfekt. Es geht kurze Rampen hoch und längere Stücke hoch, die sich steil, steiler, am steilsten zuziehen.
Mitten auf dem Weg
Meistens fährt der Zeugwart vor. So kann ich meine Geschwindigkeit fahren und es ist nicht so schlimm, wenn ich mich mal verschalte und deshalb langsamer werde. Mitten über den Weg liegt ein Baumstamm. Kein sonderlich dicker, aber doch so, dass ich absteigen würde. Allerdings fährt der Zeugwart drüber. Also, dann fahre ich auch drüber. Allerdings bin ich über meinen Mut und die Fahrkunst so überrascht, dass ich mich verbremse und nun also mitten auf dem Baumstamm zum stehen komme. Wie bescheuert. Also noch mal zurück. Ich drehe um, fahre ein Stück zurück und fahre dann einfach über den Baumstamm drüber. Als hätte ich das noch nie anders gemacht!
Da wir die Strecke nicht kennen, müssen wir manchmal noch etwas hin und her, oder wieder zurück fahren, bis wir den nächsten Weg gefunden haben. Aber da uns das Fahren mit dem Open Bike total entschleunigt, passt das. Im Gegensatz zum Crosser, der mich antreibt und wo es auf die Geschwindigkeit ankommt, strahlt das Gravelbike Ruhe aus. Das Rad mag den Wald, es liebt Rampen, Abfahrten und Sand. Es gibt mir Sicherheit und damit ein wirklich sehr gutes Gefühl. Auch das letzte steile Stück, was wir in Wiesbaden Sonnenberg hochfahren, tut dem keinen Abbruch. Ich trete in die Pedale und fahre die 14,8% hoch. Nicht, ohne zu schnaufen, aber tatsächlich ohne absteigen zu müssen. Der absolute Wahnsinn. Die Übersetzung ist wirklich top.
Fahrspaß pur
Es macht heute richtig viel Spaß zu fahren! Mit dem Crosser wünsche ich mir immer Waldautobahnen oder geteerte bzw. asphaltierte Wege im Wald. Schotter, Schlamm oder Sandwege machen mir weniger Spaß. Ich habe dann immer das Gefühl, dass mir das Hinterrad weggeht oder das das Rad instabil ist. So gerne ich abseits vom Verkehr unterwegs bin, so sehr scheue ich diese Passagen mit dem Crosser. Weil meine Fahrtechnik vielleicht dafür nicht ausreicht? Oder weil der Crosser einfach eher dem Rennrad gleicht und meine Position da eine Andere ist. Mit dem Gravelbike heute ist das etwas anderes. Mir machen die Spuren der Waldarbeiterfahrzeuge nichts aus. Ich fahre einfach mitten durch.
Mein Hinterrad geht mir auch mit dem OPEN Bike weg, allerdings fühlt es sich anders an. Nicht so wackelig. Einfach sicher und bequem. Als wir wieder zurück im Bike Loft sind, bin ich gut geschafft, aber total zufrieden. Wahrscheinlich wird das die teuerste Fahrradtestfahrt meines Lebens, aber das ist dann eben so.
Manchmal kommt das Glück halt mit einem Fahrrad.
Nachdem wir ein bisschen durch geschnauft haben und ich auch gut Wasser nachfüllen konnte, quatschen wir noch ausgiebig. Jan, dem das Bike Loft gehört, nimmt sich viel Zeit und beantwortet alle Fragen. Nach so einer Probefahrt, die der Zeugwart auch noch mal kurz mit dem Modell Up unternimmt, gibt’s einfach viel zu besprechen. Ich fühle mich wirklich gut beraten. Abgeholt, da wo ich mit meinem -noch eingeschränkten- Wissen bin. Ich habe das Gefühl, dass ich Jan alles zum Thema Gravelrad oder Fahrrad an sich fragen könnte und er auf jede Frage so antwortet, dass ich es gut verstehen kann. Das ist viel wert, wenn jemand nicht ausschließlich mit Fachbegriffen um sich wirft.
Ich kann auch ein leidenschaftlicher Gravelbike Fahrer sein, ohne großartig Ahnung von Untersetzung, Ritzelzähnen, Reifenbreiten oder Auflageflächen zu haben. Da kann man sich ran tasten. Oder man lässt es sein. Denn Rad fahren kann ich auch, ohne über all das Bescheid zu wissen. An die verschiedenen Untergründe und an die bequemere Sitzposition muß ich bei dem getesteten OPEN Bike keinen Gedanken verschwenden. Entschleunigt Rad fahren und die Natur genießen braucht wenig Gewöhnung, eröffnet aber eine zusätzliche Sportwelt, die mir heute wirklich gut gefallen hat. Wirklich richtig gut. Schade, dass ich das kleine Rad nicht einfach heimfahren kann. Die Welt ist einfach ungerecht.